31. Dezember 2009

Für 2010


Autobiographie in fünf Kapiteln
(Sogyal Rinpoche)



1.
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren ... Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.


2.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am selben Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauer es sehr lange, herauszukommen.


3.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein ... - aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen, ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.


4.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.


5.

Ich gehe eine andere Straße.


Sogyal Rinpoche
Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben


Andreas Hauser


26. Dezember 2009

Interkulturelles Management


Kekse


Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen. Es ist eine Geschichte von den Dingen, die mir ständig passieren. Sie ist absolut wahr.

Wisst Ihr, manchmal erzählen die Leute einem Geschichten, die der besten Freundin der Cousine der Gattin angeblich passiert sind, aber in Wirklichkeit wahrscheinlich irgendwo von A bis Z erfunden sind. Meine ist wie eine von diesen Geschichten, nur dass sie wirklich passiert ist, und ich weiß, dass sie wirklich passiert ist, weil derjenige, dem sie wirklich passiert ist, ich bin.

Es war so: Ich musste einen Zug erreichen und kam am Bahnhof an. Ich war zwanzig Minuten zu früh da. Ich hatte mich in der Abfahrtszeit geirrt. Ich glaube, es ist zumindest ebenso gut möglich, dass die britische Eisenbahn sich in der Abfahrtszeit geirrt hatte. War mir noch nie zuvor passiert.

Ich kaufte mir eine Zeitung, ich glaube den Guardian, um das Kreuzworträtsel zu lösen. Ich ging an die Snackbar und holte mir eine Tasse Kaffee. Und dazu kaufte ich mir ein paar Kekse – „Rich Tea“, die mag ich am liebsten.

Mit allen diesen neuen Besitztümern beladen ging ich zu einem Tisch und setzte mich. Aber fragt mich nicht, wie der Tisch aussah, denn es ist schon einige Zeit her, und ich kann mich nicht genau erinnern. Wahrscheinlich war er rund.

Ich will Euch die Anordnung schildern. Ich saß am Tisch. Links von mir die Zeitung. Rechts die Tasse Kaffee. In der Mitte des Tisches die Packung Kekse. Seht Ihr das vor Euch? Was Ihr noch nicht seht, weil ich es noch nicht erwähnt habe, ist der Typ, der bereits an dem Tisch saß. Er saß mir gegenüber. Er sah ganz normal aus. Aktentasche. Dunkler Straßenanzug. Er sah nicht so aus, als wollte er jeden Augenblick etwas Merkwürdiges tun.

Er tat Folgendes: Er lehnte sich über den Tisch, nahm die Packung Kekse, riss sie auf, nahm sich einen und… aß ihn. Er aß ihn. Tatsächlich.

Ja, und jetzt fragt Ihr Euch natürlich, was um alles in der Welt ich daraufhin gemacht habe. Ich sage es Euch. Unter diesen Umständen tat ich, was jeder beherzte Engländer tun würde. Ich war gezwungen… es zu ignorieren.

Tja, das sind Situationen, auf die man nicht vorbereitet ist, nicht? Ich durchwühlte mein Innerstes und stellte fest, dass es in meiner Erziehung, meiner Erfahrung oder selbst in meinen primitiven Urinstinkten nirgendwo etwas gab, das mir sagte, wie ich auf jemanden reagieren sollte, der mir vor meinen Augen seelenruhig einen meiner Kekse klaute.

Ich starrte wütend auf das Kreuzworträtsel. Mir fiel nicht ein einziges Lösungswort ein, ich nippte am Kaffee, er war zu heiß zum Trinken, also blieb mir keine andere Wahl. Ich gab mir einen Ruck, nahm einen Keks und versuchte mit aller Kraft nicht zu bemerken, dass die Packung mysteriöserweise bereits offen war.

Nach meiner Art setzte ich mich also zur Wehr. Ich aß den Keks. Ich aß ihn sehr bewusst und sichtbar, damit der Typ keinen Zweifel hatte, was ich da tat. Wenn ich einen Keks esse, dann bleibt der gegessen.

Und der Typ…? Er nahm sich noch einen. Ehrlich, genau das ist passiert. Er nahm sich noch einen Keks, er aß ihn. Einfach und sonnenklar. So sicher, wie wir hier sitzen.

Und das Problem war, weil ich das erste Mal nichts gesagt hatte, war es noch schwieriger, das Thema beim zweiten Mal anzusprechen. Was sagt man da? ‚Entschuldigen Sie… mir ist gerade aufgefallen, äh…’ Geht nicht. Nein, ich ignorierte es mit noch mehr Nachdruck als beim ersten Mal.

Ich starrte wieder auf das Kreuzworträtsel, kriegte immer noch kein Wort raus, und zeigte dann etwas von dem Geist, der uns Engländer über die Jahrhunderte auszeichnete – ich ging wieder zum Angriff über.

Ich nahm mir noch einen Keks. Und eine Sekunde lang begegneten sich unsere Augen. Sie begegneten sich nur einen Augenblick. Dann blickten wir beide weg. Ich kann Euch versichern, dass Elektrizität in der Luft lag. Es baute sich genau in dem Moment Spannung über dem Tisch auf.

Auf diese Weise machten wir die ganze Packung durch. Er, ich, er, ich… Es waren insgesamt nur acht Kekse drin, aber es war in dem Augenblick, als äßen wir uns durch ein ganzes Leben voller Kekse. Grausam.

Als die leere Packung schließlich leblos zwischen uns lag, stand der Typ, nachdem er sich von seiner schlechtmöglichsten Seite gezeigt hatte, endlich auf und ging. Ich stieß vor Erleichterung einen Seufzer aus.

Wie es sich so traf, wurde Augenblicke später mein Zug aufgerufen. Ich trank meinen Kaffee aus, stand auf, nahm die Zeitung, und unter der Zeitung… lagen meine Kekse.


adaptiert von © Douglas Adams: Mach’s gut und danke für den Fisch